Von: Harald Jansenberger

Bewegungstherapie für Patienten mit Multipler Sklerose: Harald Jansenberger im Experteninterview

Neben einer ausgewogenen und anti-entzündlichen Ernährung spielt die Bewegungstherapie eine Schlüsselrolle zur Gesundheitsförderung bei Multipler Sklerose (MS). Ein individuell auf die Ansprüche des jeweiligen Patienten abgestimmter Trainingsplan kann das Wohlbefinden deutlich verbessern – und zu mehr Lebensqualität führen.

Wie wichtig es zudem ist, die psychische Gesundheit auf emotionaler Ebene über Gruppensettings und einen gemeinsamen Austausch Betroffener zu stärken, erklärt uns der Salzburger Harald Jansenberger im folgenden Experteninterview.


Sanitäts-Online
: Herzlichen Dank, dass Sie sich Zeit für dieses Interview nehmen. Mit über 20 Jahren Erfahrung als Bewegungscoach und Ihrem eigenen Institut haben Sie sicherlich ein umfangreiches Wissen. Könnten Sie uns zunächst etwas über die Bedeutung der Bewegungstherapie für Patienten mit Multipler Sklerose erzählen?

Harald Jansenberger: "Multiple Sklerose nennt man nicht umsonst die Krankheit der 1000 Gesichter. So umfangreich und einschneidend die Einschränkungen sind, so individuell muss das Training und die Therapie an Personen angepasst werden. Neben dem hohen Leidensdruck, da die Erkrankung oftmals für die Umgebung nicht „sichtbar“ ist, und viele Erkrankte sich nicht ernst genommen fühlen, sind vor allem die teilweise schleichend aber auch schubhaft auftretenden Veränderungen der körperlichen Fähigkeiten eine besondere Herausforderung für die betroffenen Personen und ein zentrales Element im individuellen Trainingsansatz im Einzel- oder Gruppensetting."


Sanitäts-Online
: Wie beeinflusst Multiple Sklerose die Bewegungsfähigkeit und die allgemeine Mobilität von Patienten? Welche spezifischen Herausforderungen stellen sich bei der Bewegungstherapie für diese Zielgruppe?

Harald Jansenberger: "MS ist sehr vielseitig und schränkt Personen auf unterschiedlichste Weise ein. Während manche vorrangig mit der Sinnesverarbeitung zu kämpfen haben, sind für andere Erschöpfungszustände und die körperlichen Einschränkungen das Hauptproblem. Neben der hohen psychischen Belastung durch die Erkrankung sind vor allem die individuell unterschiedlichen Einschränkungen eine große Herausforderung im Training. Gerade die Gefühlsebene, die auch eine hohe Auswirkung auf die Bewegungsfähigkeit hat, lässt sich im Gruppensetting gut bearbeiten. Wenn man sich gemeinsam bewegt, kann man sich auch gegenseitig gut und vor allem glaubhaft unterstützen.

Motorisch stark beeinträchtigte Personen werden im Einzelsetting profitieren, da häufig spezifische Beschwerden im Therapieansatz auch einem „Versuch-und-Irrtum“-Prinzip unterliegen. Nicht nur einmal ist es mir passiert, dass als erfolgreich beschriebene Maßnahmen den gegenteiligen Effekt erzielt haben, und umgekehrt."


Sanitäts-Online
: Sie haben außerdem ihr eigenes Institut gegründet. Könnten Sie uns einige Einblicke geben, wie Ihr Institut unterstützt, um Ihren Patienten zu helfen?

Harald Jansenberger: "Mein Institut hat die Schwerpunkte Sturzprävention und Leistungsdiagnostik/Bewegungsanalyse. Da viele Personen mit MS auch ein erhöhtes Sturzrisiko aufweisen, arbeite ich im Einzel- und Kleingruppen-Setting mit dem Ziel, Stürzen vorzubeugen und die Personen zu unterstützen, wieder Sicherheit im alltäglichen Leben zu gewinnen. Im Training wird auch viel an der Selbsteinschätzung und Selbstwirksamkeit gearbeitet. Dazu kommen vielfältige unterstützende Geräte, die zum Beispiel das reaktive Gleichgewicht trainieren (z. B. durch Ausrutsch-Simulation). Zusätzlich wird mit unmittelbaren Feedbackmethoden gearbeitet, um das motorische Lernen und somit den Trainingserfolg bestmöglich zu unterstützen.

Die Bewegungsanalyse dient dazu, individuelle Einschränkungen und Stärken herauszufiltern, um eben Schwächen zu kompensieren oder wenn nicht möglich, sie durch Stärken auszugleichen. Hier kommen vielfältige Messmethoden zum Einsatz, wie zum Beispiel Druckmessplatten, Beschleunigungssensoren und Videoanalysen.

Zusätzlich versuche ich mit den Messergebnissen auch die Wirkungsweise von neuen Trainingsansätzen zu evaluieren und zu verbessern."


Sanitäts-Online
: Inwiefern kann Bewegungstherapie dazu beitragen, die Lebensqualität von Menschen mit Multipler Sklerose zu verbessern? Haben Sie Beispiele für Erfolgsgeschichten aus Ihrer langjährigen Praxis?

Harald Jansenberger: "Bewegungstherapie kann eine wichtige Säule für die Lebensqualität von Menschen mit MS darstellen. Die Anstrengung gibt auf der einen Seite die Botschaft „ich habe einen Teil meiner Lebensqualität selbst in der Hand“, und auf der anderen Seite ist man als Person mit MS ebenso trainierbar wie eine Person ohne oder mit einer anderen Erkrankung. Es gibt inzwischen vielfältige Belege, die zeigen, dass regelmäßige und gut dosierte und intensive Belastung die körperlichen Fähigkeiten verbessern können. Natürlich ist MS immer noch in den allermeisten Fällen eine fortschreitende Erkrankung, aber die Selbständigkeit kann mit Bewegungstherapie hervorragend unterstützt werden.

Und wenn das Aufstehen aus dem Rollstuhl wieder etwas länger möglich ist, oder auch ein paar Schritte wieder ohne Hilfsperson möglich sind, dann ist schon sehr viel gewonnen. Das Sturzrisiko lässt sich um 50 % reduzieren, wie es in der Literatur zu finden ist, und wie wir auch mit zwei Versuchsgruppen erheben konnten."


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: Welche Arten von Übungen und Bewegungsformen haben sich als besonders effektiv für Patienten mit Multipler Sklerose erwiesen? Gibt es spezifische Schwerpunkte, die Sie in Ihrem Ansatz berücksichtigen?

Harald Jansenberger: "Ich versuche möglichst individuell auf die Voraussetzungen und Bedürfnisse einzugehen. Was sich als sehr vielversprechend in Studien gezeigt hat, und womit ich persönlich sehr gute Erfahrungen gemacht habe, sind vor allem reaktive Gleichgewichtsübungen, die auf sanfte Weise die Kraft, im Alltag geforderte Gleichgewichtsaspekte und auch kognitive Fähigkeiten trainieren.

Allgemein würde ich das Krafttraining auf eine sehr hohe Stufe stellen, wobei hier mit der Intensität beziehungsweise mit dem Grad der Ermüdung vorsichtig vorgegangen werden sollte. Kraft ist eine entscheidende Säule für die Selbständigkeit und die Sorgen vor einer schubauslösenden Überbelastung sind zum Glück unbegründet."


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: Wie berücksichtigen Sie die individuellen Bedürfnisse und Fortschritte Ihrer Patienten in der Gestaltung ihrer Bewegungstherapie? Welche Anpassungen sind oft erforderlich, um auf die vielfältigen Symptome der Multiplen Sklerose einzugehen?

Harald Jansenberger: "Ich versuche, neben einem Anfangstest auch immer Zwischentests durchzuführen, um Fortschritte nicht nur spür- sondern auch sichtbar werden zu lassen. Natürlich gibt es nicht immer nur Fortschritte, aber auch für die Motivation ist es manchmal gut, wenn man sieht, dass auch nach einem Schub die Leistungsfähigkeit höher sein kann bzw. höher ist als zum ursprünglichen Beginn des Trainingsprozesses."


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: Multiple Sklerose kann mit Fatigue und Erschöpfung einhergehen. Wie integrieren Sie Strategien zur Energieerhaltung in Ihre Bewegungstherapie, um sicherzustellen, dass die Patienten von den Übungen profitieren, ohne sich zu überanstrengen?

Harald Jansenberger: "Der entscheidende Aspekt ist meiner Ansicht nach die Selbsteinschätzung bzw. Selbstwirksamkeit oder auch das Körperschema. Verständlicherweise tun sich Menschen schwer mit der richtigen Einschätzung ihrer Fähigkeiten, wenn sich diese schleichend beschleunigen oder schubweise verändern. Zudem kommt bei vielen Personen, die im Arbeitsprozess stehen, oder einfach nur aus der Jugend oder der eigenen Persönlichkeit heraus das Gefühl „funktionieren zu müssen“. Das ist ein wichtiger Aspekt wahrzunehmen und zu akzeptieren, wenn genug einfach genug ist. Das gilt zwar bei allen Menschen, ist aber als Anforderung und Schwierigkeit bei Personen mit MS verständlicherweise potenziert. Denn erst, wenn man seine Grenzen kennt, kann man diese auch verschieben."


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: Neben der körperlichen Gesundheit kann Bewegung auch positive Auswirkungen auf die geistige und emotionale Gesundheit haben. Wie fördern Sie das psychische und soziale Wohlbefinden Ihrer Patienten durch Bewegungstherapie?

Harald Jansenberger: "Für diesen Teil der Gesundheit ist das Gruppensetting sehr zu empfehlen. Der gemeinsame Austausch, das Verstanden werden und selbst Verstehen sind wichtige Aspekte dabei. Dabei ergibt sich fast selbstverständlich der Kontakt unter den Teilnehmenden über das Training hinaus.

Zusätzlich versuche ich gemeinsam mit den trainierenden Personen kleine Ziele zu stecken, diese zu erreichen und Fortschritte bewusst wahrzunehmen. Auch der Blick zurück im Training „wie habe ich begonnen?“ und auch auf die Testergebnisse kann helfen, dass die Motivation erhalten und die Grundstimmung positiv bleibt."


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: Welche Ratschläge oder Tipps würden Sie Menschen mit Multipler Sklerose geben, die vielleicht zögern, mit Bewegungstherapie zu beginnen oder sich unsicher fühlen, welche Art von Aktivität für sie geeignet ist?

Harald Jansenberger: "Harald Jansenberger: Die Art der Empfehlung hängt selbstverständlich von der körperlichen Verfassung und auch den motorischen Vorerfahrungen ab. Aber grundsätzlich gilt, dass man mit der Diagnose MS beinahe jede Bewegungsform oder Sportart ausführen kann, sofern die Unfallgefahr, die es bei jeder Sportart gibt, realistisch berücksichtigt wird. Bewegungsformen, die man schon kennt, stellen eine geringere Problematik dar als Bewegungsformen, die man neu erlernen müsste.

Generell gilt, dass eine abwechslungsreiche Form der Bewegung empfehlenswert ist. Man sollte sich nicht nur auf eine Sportart beschränken. Es sollten die Aspekte der Motorik: Kraft, Geschicklichkeit, Beweglichkeit, Ausdauer trainiert werden. Für die Aspekte Kraft und Geschicklichkeit (Gleichgewicht) empfiehlt sich zumindest anfangs angeleitetes Training in einem Therapiezentrum oder Fitnessstudio mit geschulten Trainer*innen. Für das Ausdauertraining sind verletzungsarme Bewegungsformen, wie Ergometerfahren oder Gehen auf dem Laufband empfehlenswert. Wenn die Beine stark eingeschränkt sind, kann auch Handergometerfahren eingesetzt werden. Ebenso eignet sich Bogenschießen, das auch im Sitzen ausgeführt werden kann, zur Rumpfkräftigung. Die Möglichkeiten sind sehr vielfältig, daher kann ich nur zu Neugier und Versuch raten!"


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: Abschließend, können Sie uns einen Einblick geben, wie Sie sich die Zukunft der Bewegungstherapie für Patienten mit Multipler Sklerose vorstellen? Gibt es bestimmte Entwicklungen oder Ansätze, auf die Sie besonders gespannt sind?

Harald Jansenberger: "Ich hoffe zuerst einmal auf eine erfolgreiche Ursachenforschung und in weiterer Folge auch Behandlung und eventuell Vorbeugung der Erkrankung.

In meinem Bereich der Bewegung gibt es erfreulicherweise viel Forschungsarbeit. Hier in die Zukunft zu blicken, ist sehr schwierig. Aktuell geht sehr viel in Richtung digitale Unterstützung der Therapie, was für das selbständige Training zuhause sicher hilfreich sein kann. Ebenso die unmittelbare Rückmeldung, ob man Bewegungen korrekt ausführt, kann mittels digitaler Helfer, auch als Unterstützung zuhause, den Effekt der Therapie verstärken. Auch die weitere Verfeinerung der sogenannten „Exergames“, also spielerischen computergestützten Aufgaben, die nicht nur in Kliniken, sondern auch zuhause durchgeführt werden können, sind spannende Entwicklungen. Auch das Bewegen in virtueller Umgebung kann ein weiterer interessanter Bereich sein.

Speziell für gehfähige Personen wäre die weitere marktreife Entwicklung sogenannter omnidirektionaler Laufbänder (Laufbänder, die in unterschiedliche Richtungen angesteuert werden können) vielversprechend. Leider sind diese im therapeutischen Bereich noch nicht verbreitet bzw. nur in Studien ein Thema."

autorenprofil harald jansenberger

 

Der in Salzburg geborene und in Linz lebende Harald Jansenberger hat Sport- und Bewegungswissenschaften studiert und ist Gründer des Instituts für sportwissenschaftliche Beratung für mehr Wohlbefinden und Vitalität. Das Institut zur Gesundheitsförderung gibt es bereits seit 2009. Dabei lautet Jansenbergers Philosophie, jeden seiner Klienten individuell dabei zu unterstützen, ihre Mobilität und Gangsicherheit – als Basis einer zuverlässigen Sturzprävention – zu optimieren.

Der Sportwissenschaftler betreut auch Personen mit Multipler Sklerose, die dank seiner speziellen Bewegungstherapie zu mehr Selbstvertrauen und Wohlbefinden zurückfinden. Jansenberger hat zahlreiche Fortbildungen absolviert und hält Vorträge an der Universität Salzburg. Darüber hinaus leitet der dreifache Familienvater Schulungen zur Sturzprävention und ist zertifizierter Personal-Fitness-Trainer – um nur ein paar Aspekte von Jansenbergers Expertise vorzustellen.

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