Von: Nele Handwerker

Ernährung bei Multipler Sklerose: Nele Handwerker im Experteninterview

Eine nährstoffreiche, ausgewogene und möglichst naturbelassene Ernährung ist das A und O, um das Wohlbefinden bei Multipler Sklerose zu unterstützen. Der entscheidende Vorteil ist, dass Betroffene selbst aktiv werden können und mit der Zeit ein gutes Gefühl dafür bekommen, welche Lebensmittel ihnen gut tun. Entsprechend nimmt die richtige Auswahl an Nahrungsmitteln mit einer hohen Nährstoffdichte einen zentralen Teil eines gesunden Lifestyles ein.

Wer sich an den allgemeinen Basics einer gesunden Ernährung orientiert und frische, regionale Lebensmittel bevorzugt, liegt bereits goldrichtig. Bei MS spielt insbesondere ein pflanzenbasierter Speiseplan mit antientzündlichen Zutaten die Schlüsselrolle. Wie genau die praktische Umsetzung funktioniert, erklärt uns Nele Handwerker im folgenden Interview.


Sanitäts-Online
: Welchen Einfluss kann die Ernährung auf den Verlauf und die Symptome von Multipler Sklerose haben? Welche spezifischen Nährstoffe oder Ernährungsweisen sind Ihrer Meinung nach besonders relevant?

Nele Handwerker: Mit einer gesunden Ernährung kann ich die MS günstig beeinflussen und damit natürlich auch die begleitenden Symptome. Bei Blasen- und Darmstörungen ist es beispielsweise sehr wichtig, ausreichend zu trinken und den Großteil in Form von Wasser, ungesüßten Tees oder stark verdünnten Saftschorlen. Das beugt einer zu starken Bakterienbildung im Urin vor, wenn man Probleme mit Restharn hat und hält den Stuhl weicher, wenn man von einer neurogenen Darmstörung betroffen ist.

“Fatigue” ist ein anderes Symptom von MS, das positiv durch die Ernährung beeinflusst werden kann. Wer von chronischer Müdigkeit betroffen ist, sollte nicht noch zusätzlich schwer verdauliches Essen oder größere Mengen Alkohol zu sich nehmen, weil das ermüdet, die Schlafqualität verschlechtert und die Konzentration reduziert.

Außerdem drohen bei ungesunder Ernährung weitere Erkrankungen, wie Diabetes oder Herz-Kreislauf-Probleme, die dann wiederum den Verlauf der MS negativ beeinflussen und eventuell das medikamentöse Spektrum der Behandlungsoptionen verringern.

Ein wichtiger Leitsatz: Vielfalt schlägt strenge Diäten. Wer größtenteils saisonale und regionale Nahrungsmittel wählt, selbst frisch zubereitet oder zubereiten lässt und dabei immer wieder andere Gemüse- und Obstsorten, Kräuter und pflanzliche Öle verwendet sowie den Fleischkonsum gering hält, tut seinem Körper bereits viel Gutes.

Ich würde keine spezifischen Nährstoffe hervorheben, sondern eher darauf achten, in keinen Mangel zu kommen, aufgrund spezifischer Diäten.


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: Gibt es wissenschaftliche Beweise oder Studien, die einen Zusammenhang zwischen bestimmten Ernährungsweisen oder Nahrungsergänzungsmitteln und der Verbesserung der Lebensqualität von Patienten mit Multipler Sklerose zeigen?

Nele Handwerker: Schon lange wird die mediterrane Kost empfohlen, die ballaststoffreich ist, gute Pflanzenöle nutzt und ohne Verbote auskommt. Wer im Supermarkt größtenteils unverarbeitete Lebensmittel einkauft und diese im Rahmen der eigenen Haushaltssituation selbst zubereitet, macht ganz viel richtig. Asiatische Ernährungsformen stehen da aber auch in nichts nach.

Wichtig ist, dass man sich nicht hauptsächlich von verarbeiteten Lebensmitteln ernährt, die fast immer zu viel Zucker, Salz und Fett enthalten und am Ende deren Verarbeitung in der Regel nur wenig an wichtigen Nährstoffen übrig ist. Der Darm muss beschäftigt werden, dann kann er aus den zugeführten Ballaststoffen auch Stoffe wie Propionsäure selbst bilden und wird nicht von Zucker, Fett oder Salz überschwemmt.

Wer stark unter den Symptomen der MS leidet, sollte vorsichtig sein mit einer restriktiven veganen Ernährung, da es wichtig ist, hochwertige Eiweiße aufzunehmen, um die schwachen Muskeln oder geistigen Fähigkeiten zu unterstützen. Natürlich sind verschiedene Ernährungsformen möglich, aber je stärker man sich bei den unverarbeiteten Lebensmitteln einschränkt, umso wahrscheinlicher wird eine Mangelernährung, gerade bei Vitaminen, Mineralien und Spurenelementen.


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: Welche Rolle spielt die Entzündung im Körper bei Multipler Sklerose und wie kann die Ernährung dazu beitragen, Entzündungsreaktionen zu verringern oder zu kontrollieren?

Nele Handwerker: Multiple Sklerose wird von zwei Komponenten getrieben – der entzündlichen Aktivität, wodurch das Myelin rund um die Nervenleitbahnen angegriffen wird - und dem Untergang von Nervenzellen. Das Entzündungslevel im Körper kann man durch verschiedene Dinge positiv beeinflussen – z. B. mit einer gesunden Ernährung, Ausdauer- und Kraftsport, Vorbeugung vor Krankheiten durch einen guten Impfstatus, dem Einhalten von Hygieneregeln und einer stabilen Psyche.

Wer viel rotes Fleisch isst, durch zuckerhaltige Getränke und verarbeitete Produkte viel Zucker und Salz zu sich nimmt oder schlecht auf Milchprodukte anspricht und diese dennoch intensiv weiter konsumiert, der befeuert Entzündungsreaktionen im Körper - und das wird einen negativen Effekt haben.

Wer sich jedoch bereits in großen Teilen gesund und vielseitig ernährt und dennoch viele Schübe oder neue Läsionen im MRT hat oder unter bleibenden Symptomen der MS leidet, sollte bitte nicht die Schuld bei sich suchen und keinesfalls zur Askese übergehen. MS ist eine komplexe Erkrankung, die sehr unterschiedlich verlaufen kann. Auch wenn die Ernährung ein wichtiger Einflussfaktor ist, den man selbst beeinflussen kann, ist sie niemals die alleinige Lösung. Und es gibt genügend Beispiele sehr gesund lebender Menschen, die ohne wirksame verlaufsmodifizierende Therapien der MS scheinbar hilflos gegenüberstehen.


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:Gibt es spezifische Lebensmittel oder Nahrungsmittelgruppen, die Patient*innen mit Multipler Sklerose meiden sollten, um mögliche Symptome oder Krankheitsschübe zu reduzieren?

Nele Handwerker: Bisher haben mehrere Studien gezeigt, dass eine ballaststoffreiche Ernährung, mit geringem Zucker- und Salzkonsum und wenig rotem Fleisch zu bevorzugen ist. Bei Milchprodukten ist Vorsicht geboten: Wer das Gefühl hat, sie nicht zu vertragen und darunter die MS stärker spürt, darf gern auf Alternativen ausweichen. Durch eine Art Verwechslung kann das Milchprotein Casein zu einer erhöhten Entzündungsaktivität bei MS beitragen. Wer nicht darauf reagiert, sollte mit einem überschaubaren Konsum von fermentierten Milchprodukten, wie Joghurt, Käse etc. keine Probleme haben.

Außerdem kursieren Gerüchte, dass Getreide bei MS schlecht sei. Das gilt aber nur für Menschen mit einer Glutenunverträglichkeit, der Zöliakie, die mit rund einem Prozent betroffener Menschen recht selten ist. Wer Vollkornprodukte isst und Nahrungsmittel mit weißem Mehl meidet oder nur wenig zu sich nimmt, macht viel richtig.

Auch Alkohol hat einen Einfluss auf MS. Unter alkoholischem Einfluss kann man vergangene oder bestehende Symptome stärker spüren und generell sind Nervengifte eher zu meiden, aber man muss deshalb nicht völlig darauf verzichten.


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:Welche Herausforderungen können Patient*innen mit Multipler Sklerose bei der Umsetzung einer gesunden Ernährung haben, und welche Unterstützung oder Ressourcen stehen ihnen zur Verfügung, um dies zu bewältigen?

Nele Handwerker: Jeden Tag die eigenen Mahlzeiten zuzubereiten, kann natürlich eine Herausforderung sein, egal ob man stark im Alltag eingespannt ist oder mit Symptomen der MS kämpft. Da kann es hilfreich sein, mit einem Essensplan zu arbeiten, größere Portionen vorzubereiten und dann einzufrieren oder anderweitig zu portionieren, um nur einmal den Aufwand zu haben. Wer Probleme mit der Fingerfertigkeit hat, sollte Rezepte wählen, die wenig kleinteiliges Zerschneiden erfordern. Bei Schluckstörungen ist die Konsistenz wichtig und kann viele Unfälle vermeiden.

Ein guter Tipp ist die „Lieblingsküche“ der DMSG Niedersachsen, eine Sammlung einfacher, leckerer und gesunder Rezepte, die in gedruckter Form bestellt werden kann. https://dmsg-niedersachsen.de/multiple-sklerose/ernaehrung/

Vielleicht kocht auch jemand anderes bei Ihnen im Haushalt. Dann sollte diese Person auf jeden Fall die Bedeutung einer gesunden und vielfältigen Ernährung allgemein und vor allem auch bei MS kennen und darauf eingehen. Schließlich sind die Empfehlungen auch für jeden gesunden Menschen gut. Oder Sie nutzen das Kochen gleich als Anlass, um sich mit lieben Menschen zu treffen und wechseln sich dabei ab.

Essen gehen ist genauso erlaubt, wenn das finanziell machbar ist. Gerade zur Mittagszeit gibt es unter der Woche oft reduzierte Preise. Oder Sie nutzen das Angebot von frischen Salatbars, die es in immer mehr Supermärkten gibt.


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: Zu guter Letzt: Was können Sie anderen Betroffenen mit auf den Weg geben, um neue Ernährungsweisen im Alltag zu etablieren und diese langfristig beizubehalten?

Nele Handwerker: Um eine neue Gewohnheit zu etablieren, muss man sie gut zwei Monate regelmäßig ausführen und am besten gelingt dies, wenn sie in bestehende Routinen eingebettet ist. Fangen Sie lieber mit einem kleinen Schritt an, als alles über den Haufen zu werfen und am Ende aufzugeben.

Konkret könnte das bedeuten, dass Sie eine ungesunde Gewohnheit weglassen, wie das Chips essen auf dem Sofa abends vor dem Fernseher und stattdessen Alternativen ausprobieren, wie Gemüsesticks mit einem selbst zubereiteten Dip. Haben Sie das zwei Monate lang gemacht und schätzen gelernt, können Sie zuckerhaltige Getränke weglassen und stattdessen verschiedene Teesorten ausprobieren oder Wasser mit einer Zitronen- oder Gurkenscheibe oder Minzblättern ausprobieren. Zwei bis drei Monate später steht dann vielleicht der Essensplan an und Sie führen zunächst einen vegetarischen Tag pro Woche ein, an dem Sie neue Rezepte ausprobieren, bis Sie Ihre Favoriten gefunden haben. Je nach Ihrem Ist-Stand beim Thema Ernährung können Sie klein beginnen und dann langsam ausweiten, wenn Sie weitere Gewohnheiten etablieren wollen. Und nicht entmutigen lassen, wenn Sie mal einen kleinen Rückfall in ungesunde Muster erleben lassen. Jeder Tag ist ein neuer Anfang und falls Sie auf lange Sicht einen ungesunden Ernährungstag in der Woche belassen wollen, ist auch das okay. Es geht um das große Ganze. Wer kleine Schritte erfolgreich Stück für Stück umsetzt, steht nach ein bis zwei Jahren deutlich besser da, als derjenige, der den großen Wurf probiert, daran scheitert und dann aufgibt.

autorenprofil nele handwerker

Nele Handwerker wurde 1980 in Dresden geboren, studierte Medienmanagement und lebt heute zusammen mit ihrer Familie in Berlin. Als Autorin hat sie sich auf Geschichten für Kinder und Erwachsene spezialisiert, um Groß und Klein für einen respektvollen Umgang mit der Natur zu sensibilisieren.

Das Herzstück ihrer Arbeit bildet zudem ihr Blog über Multiple Sklerose, um andere Betroffene aufzuklären: Nele Handwerker gibt ihre Alltagserfahrungen mit ihrer chronisch-entzündlichen Autoimmunerkrankung weiter. Ihr Anliegen ist es, Personen mit MS zu zeigen, wie ein eigenverantwortliches, selbstbestimmtes Leben gelingt. Dabei spielt ein bewusster Lebensstil mit einer gesunden Ernährung die Hauptrolle. Für ihren Podcast rund um das Thema MS erhielt Nele Handwerker 2022 zudem den Brain Health Award in der Kategorie “Patient Advocate".

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