Multiple Sklerose (MS) ist eine chronische Erkrankung des zentralen Nervensystems, die sich in der Frühphase häufig durch Empfindungsstörungen, Sehstörungen und Muskellähmungen äußert. Typisch für MS ist der schubweise Verlauf. Die moderne Medizin bietet heutzutage sehr gute Behandlungsmöglichkeiten, mit denen sich die Krankheit gut managen lässt. Welche das sind und warum die spezialisierte Betreuung in enger Verknüpfung von klinischer Praxis und Forschung gerade für MS-Patienten so wichtig ist, haben wir mit Prof. Tjalf Ziemssen besprochen, der das Multiple-Sklerose-Zentrum am Universitätsklinikum in Dresden leitet.
Sanitäts-Online: Prof. Dr. Ziemssen, Ihr beruflicher Weg zeugt von einer tiefen Verbindung zur Neuroimmunologie und insbesondere zur Multiplen Sklerose. Könnten Sie uns mehr über Ihre frühen Forschungsarbeiten während Ihres PostDoc-Aufenthalts am Max-Planck-Institut für Neurobiologie erzählen und wie diese Ihre Interessen in diesem Bereich beeinflusst haben?
Prof. Dr. Ziemssen: "Eigentlich bin ich zur Neuroimmunologie erst auf dem zweiten Bildungsweg gekommen. Nach der Entscheidung in die Neurologie zu gehen, habe ich mich zunächst mit dem autonomen Nervensystem beschäftigt.
Ich war in London am Queen Square (Anm.: Das Queen Square Institute am University College London ist eine der weltweit führenden Forschungszentren für Neurowissenschaften), habe dort im autonomen Labor gearbeitet sowie geforscht unter Prof. Mathias und dann versucht, in Dresden etwas Ähnliches aufzubauen.
Die Intensivmedizin hat mich mit den autonomen Störungen sehr fasziniert. Dann kam die Frage auf, ob ich das Dresdner Team im Bereich der Multiplen Sklerose unterstützen und dafür als PostDoc über die DFG nach München gehen könnte. Dem habe ich zugestimmt und in diesen fast drei Jahren ist dann meine Flamme für die Neuroimmunologie entfacht worden. Ich hatte dort sehr gute Lehrer, die mich motiviert und auch dazu beigetragen haben, insbesondere das Klinische aber auch das Experimentelle zu sehen."
Sanitäts-Online: Sie haben das neuroimmunologische Labor (NIL) aufgebaut, das sowohl tierexperimentelle als auch molekularbiologische Forschung betreibt. Wie hat diese interdisziplinäre Herangehensweise zur Erweiterung unseres Verständnisses von neuroimmunologischen Erkrankungen wie Multipler Sklerose beigetragen?
Prof. Dr. Ziemssen: "Ich hatte das Glück von Anfang an neben klinisch-neuroimmunologischen Fragen auch in den tierexperimentellen grundlagenwissenschaftlichen Bereich einzutauchen. Nach meiner Rückkehr nach Dresden gab es dort allerdings nicht die nötige kritische Masse, um einen grundlagenwissenschaftlich-neuroimmunologischen Bereich aufzubauen. Daher hat man immer noch kleinere Projekte in dem Bereich gemacht, sich aber perspektivisch in Richtung klinischer Neuroimmunologie entwickelt.
Ich glaube auch, dass dieser Bereich sehr wichtig und auch komplex ist, zumal wir es in Dresden wirklich geschafft haben, viele Patienten zu betreuen und in unsere klinischen Forschungsprojekte einzubinden.
Letztendlich liebe ich die neuroimmunologische Grundlagenwissenschaft, glaube aber, dass die klinische Neuroimmunologie wichtig ist, um insbesondere die Translation – also die Übertragung von Forschungsergebnissen in die Praxis – für unsere Patienten sicherzustellen."
Sanitäts-Online: Im Jahr 2006 haben Sie das Multiple-Sklerose-Zentrum am Universitätsklinikum Dresden gegründet. Könnten Sie uns mehr darüber erzählen, welche Bedeutung und welchen Nutzen dieses Zentrum für Patienten mit Multipler Sklerose bietet?
Prof. Dr. Ziemssen: "Vorher gab es in Dresden nur eine kleinere Ambulanz für MS-Patienten, die dann aber auch immer weiter abgebaut wurde. Ich sah damals schon die Notwendigkeit, eine spezialisierte Versorgung von Patienten anzubieten.
Es kamen zu dem Zeitpunkt auch sehr innovative und zunehmend komplexere Medikamente wie das Natalizumab zur Zulassung, darüber hinaus wurden auch im Bereich der klinischen Studien viele neue Wirkstoffe getestet.
Wir starteten damals auch mit einer MS-Schwester und einer Psychologin im Team, dafür hat sich einfach die Entwicklung eines Zentrums angeboten – auch um sich zu differenzieren von der bisherigen, nur an einem Tag der Woche geöffneten Ambulanz. Die Idee war, jeden Tag Ansprechpartner für MS-Patienten zu sein und damit werktags eine durchgehende Notfallversorgung zu gewährleisten."
Sanitäts-Online: Anfang 2020 haben Sie die Position des wissenschaftlichen Leiters des Masterstudiengangs Multiple Sklerose Managements übernommen. Was hat Sie dazu inspiriert, diese wichtige Ausbildungsrolle zu übernehmen und wie trägt dieser Studiengang zur Weiterentwicklung der MS-Behandlung bei?
Prof. Dr. Ziemssen: "Nachdem ich viele Jahre vorher schon die Idee und das gesamte Konzept und die Vorarbeiten zusammen mit der Dresden International University (DIU) entwickelt hatte, habe ich dann auch die Leitung des Masterstudiengangs übernommen. Bereits 2015 hatte ich die Vision, die Ausbildung zu MS möglichst industriefrei und hochqualitativ-universitär anbieten zu können, hier bot sich Dresden International University als Partner an.
Aus dieser Idee heraus musste mit sehr viel Arbeit – wir sind das erste Krankheitsbild mit einem eigenen Masterstudiengang - und einem großen Team zusammen mit Kolleginnen und Kollegen ein Curriculum entwickelt werden, das dann auch mit Leben gefüllt werden muss – aktuell gibt es zwei deutsche und eine internationale Studiengruppe. Das war noch einmal sehr viel Arbeit, aber natürlich ist es auch toll, wenn man das erste Mal für ein Krankheitsbild einen solchen Studiengang aufsetzen kann.
Und es gibt nichts Schöneres, als von den Studentinnen und Studenten zu hören, wie viel sie aus dieser speziellen Ausbildung mitnehmen können in den Alltag."
Sanitäts-Online: Die Ausbildung von Ärzten, Apothekern, Therapeuten und anderen Fachleuten im Bereich des Multiple Sklerose Managements ist zweifellos von großer Bedeutung. Könnten Sie uns Einblicke geben, welche Fähigkeiten und Kenntnisse Absolventen dieses Studiengangs erwerben und wie diese zur Verbesserung der Versorgung von MS-Patienten beitragen können?
Prof. Dr. Ziemssen: "Im Management von MS-Patienten muss eine zunehmende Spezialisierung auf den Weg gebracht werden. Leider werden viele Patientinnen und Patienten noch in nicht-spezialisierten Zentren von nicht-spezialisierten Therapeuten behandelt. Was sehe ich da manchmal an nicht optimalem Management von Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Neurologen… Und wie schlecht und langsam ist zum Teil die Diagnostik mittels Bildgebung oder anderer Verfahren! Hier ist es im Interesse unserer Patienten sehr wichtig, dass wir die Qualität verbessern.
Dafür müssen wir natürlich auch entsprechende Angebote zur Ausbildung schaffen, was wir mit unserem Studiengang versucht haben. Darüber hinaus sind wir im Zentrum auch sehr aktiv dabei, andere Berufsgruppen zu schulen und von unserem Konzept zu überzeugen.
Es ist meiner Meinung nach sehr bedauerlich, dass wir die Möglichkeiten haben, Patienten besser zu behandeln und z. B. das Fortschreiten der Erkrankung bei vielen Menschen zu stoppen, und wir diese Möglichkeiten aber aus Unwissenheit und aufgrund mangelnder Infrastruktur nicht ausschöpfen. Und das ist auch für mich ein ewiger Antrieb, neben der direkten Versorgung von MS-Patienten die Situation im Hinblick auf optimierte Diagnostik und Therapie voranzubringen und zu verbessern. Es darf nicht mehr sein, dass eine chronische Erkrankung wie die MS nicht ernst genommen wird und nicht optimal gemanagt wird. Wir haben dazu 2023 unsere große Multiple Sklerose 360° Aktion durchgeführt, um ein Bewusstsein für das ganzheitliche MS Management zu schaffen."
Sanitäts-Online: Ihre Forschung und Lehre haben zweifellos dazu beigetragen, unser Verständnis von Multipler Sklerose zu vertiefen. Könnten Sie uns einige Ihrer bedeutendsten Erkenntnisse oder Entdeckungen in Bezug auf die Neuroimmunologie und das Management von MS teilen?
Prof. Dr. Ziemssen: "Persönlich geht es mir um zwei Dinge: Das eine ist die Kommunikation von neuen Erkenntnissen. Ich glaube, dass nicht nur Neurologen von wichtigen wissenschaftlichen Erkenntnissen im Bereich der Multiplen Sklerose erfahren sollten, sondern auch andere Behandler, Therapeuten und selbst auch die Patienten. Nur der informierte Patient ist in der Lage, die Erkrankung ernst zu nehmen und auch entsprechende, heute mögliche therapeutische Schritte mit uns zu unternehmen.
Wir persönlich haben vor allem im Bereich der Phänotypisierung der MS gearbeitet und tun dies immer noch. Wir glauben, dass es für das optimale Management sehr wichtig ist, den Phänotyp der Erkrankung herauszuarbeiten, da dieser zum einen für die Wahl der optimalen Therapie von entscheidender Bedeutung ist, auf der anderen Seite aber auch die zu behandelnde Symptomatik der Erkrankung definiert. Die Symptomatik der Erkrankung herauszuarbeiten ist entscheidend, um dem Patienten direkt Linderung seiner Beschwerden zu verschaffen, gerade im Hinblick auf die vielfältigen MS-Symptome, die bei dieser Erkrankung mit den tausend Gesichtern auftreten können.
Darüber hinaus versuchen wir, digitale Innovationen in die Behandlung einzubringen: Es gibt heutzutage Biomarker aus dem Labor, mit denen sich die Erkrankung hervorragend monitorieren lässt, es gibt Möglichkeiten im Bereich der standardisierten Bildgebung mittels Kernspintomographie, die uns viel mehr Aussagen zulassen als im Moment der klassische Papierbefund aus dem MRT. Ebenso sind wir in der Lage, durch moderne digitale Technologien Sprung und Sprache zu analysieren… All das müssen wir auf den Weg bringen und in einer Datenstruktur sammeln, die auch für den Patienten verfügbar ist."
Sanitäts-Online: Wie sehen Sie die Zukunft der neuroimmunologischen Forschung und des Managements von Multipler Sklerose? Gibt es spezifische Entwicklungen oder innovative Ansätze, auf die Sie besonders gespannt sind?
Prof. Dr. Ziemssen: "Hier würde ich natürlich klar unseren digitalen MS Zwilling nennen. Er dient dazu, die Erkrankung deutlich besser zu phänotypisieren und zu monitorieren. Dies hat sehr positive Auswirkungen auf die Diagnose der Erkrankung, insbesondere auf mögliche Differentialdiagnosen, die ausgeschlossen werden können. Die Datensammlung in einem Format, das für Patienten und Behandler gleichermaßen verfügbar ist, ist ein Kraftakt, der uns auch bei anderen Erkrankungen helfen könnte. Bei der Multiplen Sklerose haben wir auch viele junge Patienten, denen es auch wenig Probleme macht, digitale Angebote zu nutzen – auch das ist toll, weil wir hier viel lernen können.
Grundsätzlich muss es darum gehen, die optimale individuelle Therapie für den einzelnen Patienten zu finden. Momentan haben wir viele verfügbare Therapien, aber es ist unklar, welche von 20 Therapien Patient X bekommen soll – soll man gleich mit aktiveren Therapien starten? Wie verhält man sich, wenn die Erkrankung stabil ist und man längere Zeit ein sehr aktives Medikament gegeben hat? All das sind Fragestellungen, die geklärt werden müssen und da kann meiner Meinung nach der von uns initiierte digitale Zwilling uns sehr viel helfen."
Sanitäts-Online: Ihre Arbeit umfasst sowohl die Forschung als auch die klinische Praxis. Wie gelingt es Ihnen, eine Brücke zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und praktischer Anwendung zu schlagen, um das Leben von Menschen mit Multipler Sklerose zu verbessern?
Prof. Dr. Ziemssen: "Für mich persönlich ist nur diese duale Funktion möglich und nötig, ich möchte weder allein in der klinischen Forschung ohne Patienten sein, noch möchte ich allein beim Patienten ohne Forschung sein. Diese Tandem-Tätigkeit an beiden wichtigen Funktionen befruchtet sehr und gibt einem auch die nötige Energie, das durchzuziehen. Man entwickelt viele neue Ideen in der Arbeit mit den Patienten zusammen. Diese Ideen setzt man dann wissenschaftlich um und hofft, sie irgendwann zum Patienten zurückbringen zu können. Es gibt nichts Schöneres als Dinge, die man aus der Patientenarbeit entwickelt hat und dann nach wissenschaftlicher Erforschung und Optimierung zurück zum Patienten bringt.
Allerdings muss man eindeutig sagen, dass diese Strukturen sehr schwierig sind umzusetzen. Wir in Deutschland praktizieren eine Billig-Medizin, die möglichst "all-inclusive" zu einem nicht kostendeckenden Honorar, bei der die Spezialisierung bei einer Erkrankung wie der Multiplen Sklerose nicht genügend gelebt wird. Und Spezialisierung bedeutet eben auch, dass dort Kollegen tätig sind, die nicht nur Versorgung machen, sondern auch wissenschaftliche Forschung bzw. Translation in die Praxis machen. Hier braucht es eindeutig eine bessere Finanzierung solcher Strukturen, was sich auch langfristig bezahlt macht. Auch unser MS-Zentrum hat von Jahr zu Jahr mit finanziellen Herausforderungen zu kämpfen. Wir sind davon überzeugt, uns mehr Zeit für den Patienten nehmen zu müssen als in der Regelversorgung, ohne dass wir ein höheres Honorar bekommen. Ich kann mir gar nicht vorstellen, was ich machen soll, wenn wir aufgrund einer nicht ausreichenden Finanzierung unsere Forschung und Versorgung nicht mehr so durchführen können, wie wir es aktuell tun. Da muss sich in Deutschland einiges ändern und man muss diese Zentren meiner Meinung nach auch stärker fördern."
Sanitäts-Online: Abschließend, können Sie uns einige persönliche Einblicke oder Erfahrungen teilen, die Ihre Leidenschaft für die Neuroimmunologie und das Engagement für die MS-Gemeinschaft geprägt haben?
Prof. Dr. Ziemssen: " Es ist schon so, dass ich mit der MS frühzeitig konfrontiert wurde, bevor überhaupt der Wunsch aufkam, Neurologe zu werden. Im engen Freundeskreis meiner Eltern gab es eine Pfarrersfrau, die schwer an Multipler Sklerose erkrankt war, und relativ schnell daran gestorben ist. Das war für mich das erste Mal, dass ich als Jugendlicher mit neurologischen Erkrankungen konfrontiert wurde. Das hat damals mein Interesse an der MS geweckt.
Dann kam es im Studium als Stipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes dazu, dass wir während einer Sommerakademie, die in den Semesterferien stattfand, uns mit Autoimmunerkrankungen beschäftigt haben. Ich hatte die Multiple Sklerose als Erkrankung gezogen und darüber referiert. Ja, und da ist dann praktisch schon das Feuer für die MS entzündet worden.
Dann kam der Wink mit dem Zaunpfahl, als ich nach der neurologischen intensivmedizinischen Zeit in Dresden das Angebot bekam, ob ich nicht nach München in die neuroimmunologische Forschung gehen wollte. Und dort entstand dann in der PostDoc-Zeit der Wunsch, die MS in meinem weiteren Leben sowohl klinisch als auch von Forschungsseite weiter zu betreuen.
Aktuell ist es wie eine Droge. Ich habe durch meine bisherige Forschung, durch wunderbare Kolleginnen und Kollegen bei uns im Team, durch Patientinnen und Patienten, die ich jetzt über 20 Jahre kenne, so viel positive Energie gesammelt, dass ich diese weiter umsetzen muss. In den nächsten Jahren will ich zum einen dafür sorgen, dass die Forschung im MS-Bereich noch weiter vorankommt. Zum anderen wünsche ich mir, dass auch die Versorgung der MS-Patienten besser und spezialisierter wird, und dafür werde ich in den nächsten 20 Jahren weiter arbeiten, soweit mir das möglich ist."
Gerne kann man unseren Zentren auch auf unseren Social Media Kanälen folgen:
Prof. Dr. med. Tjalf Ziemssen ist Facharzt für Neurologie und einer der deutschlandweit führenden Experten im Bereich Multiple Sklerose. Nach dem Medizinstudium an der Ruhr-Universität Bochum und seiner Zeit als Arzt im Praktikum an der neurologischen Universitätsklinik Dresden wechselte Ziemssen als Stipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft auf eine PostDoc-Stelle am Max-Planck-Institut für Neurobiologie in Martinsried, wo er sich intensiv mit neuroimmunologischen Fragestellungen beschäftigte. Im Jahr 2003 kehrte er nach Dresden zurück, wo er zunächst das neuroimmunologische Labor (NIL) und 2006 dann das Multiple-Sklerose-Zentrum am Universitätsklinikum in Dresden aufbaute, das er bis heute leitet. 2011 wurde er als Universitätsprofessor zum Direktor des Zentrums für klinische Neurowissenschaften berufen. Mit dem Ziel, ein spezialisiertes Fortbildungsangebot für Ärzte, Therapeuten und Pflegefachleute im Bereich MS zu schaffen, entwickelte er an der Dresden International University den Studiengang Multiple Sklerose Management (M.A.), den er seit 2020 als Wissenschaftlicher Leiter sowohl in deutscher Sprache als auch in internationaler Version betreut.